Gesundheitsschutz und Gesundheitsmanagement im digitalen Zeitalter: Chancen und Perspektiven

Bei Siemens ist das Thema Beschäftigungsfähigkeit in das strategische Rahmenwerk, das DEGREE Modell, aufgenommen. Es geht darum, Menschen zu befähigen, in einem sich ständig verändernden Umfeld resilient und relevant zu bleiben. Aufgabe der Health Management Organisation bei Siemens ist es unter anderem, Strategien und Programme zu entwickeln, die die Gesundheit der Mitarbeitenden und damit ihre Beschäftigungsfähigkeit fördern. Dabei geht es sowohl um die physische Gesundheit als auch um das mentale und soziale Wohlbefinden. Es sollen Arbeitsbedingungen so gestaltet werden, dass die Mitarbeitenden, vom Eintritt ins Unternehmen bis zum Austritt, gesund und zufrieden leben und arbeiten können.

Im Interview berichtet Klaus Pelster als Leiter der Health Management Organisation von den Chancen und Herausforderungen des Betrieblichen Gesundheitsmanagements bei Siemens, u.a. im Bereich Digitalisierung.

 

Was sehen Sie als die größten Herausforderungen im BGM?

Zunächst und als unverbesserlicher Optimist muss ich sagen, dass ich die größten Herausforderungen auch immer als die größten Chancen wahrnehme. Schon Schopenhauer sagte ja „Die Gesundheit ist zwar nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts.“ Und das ist bei den Menschen von heute angekommen, da war die Coronakrise sicher ein Katalysator in der Bewusstseinsbildung.

Was sind nun also die Herausforderungen? Definitiv unsere psychische Gesundheit. Früher oft mit einem Stigma behaftet, sehen wir heute kam einen gesundheitlichen Diskurs ohne dieses Thema. Laut dem Fehlzeitenreport von 2023 sind psychische Erkrankungen der dritthäufigste Grund für Krankschreibungen in Deutschland und außerdem mit 41,8% einer der Hauptgründe Erwerbsminderungsrenten (vgl. Deutsche Rentenversicherung 2023).

Eine Studie des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) aus dem Jahr 2020 schätzt den volkswirtschaftlichen Schaden durch psychische Erkrankungen auf etwa 100 Milliarden Euro pro Jahr, die Summe berechnet sich aus Arbeitsausfällen, Produktivitätsverlusten, Behandlungskosten und, wie schon erwähnt, Frühverrentungen. Und im Übrigen sehen wir das Thema psychische Belastungen nicht erst bei Mitarbeitenden, die schon lange im Unternehmen sind. Denn auch immer mehr Menschen, die in jungen Jahren bei uns einsteigen, haben einen dringenden Handlungsbedarf.

Ein großes Thema ist der demografische Wandel. Unsere Gesellschaft wird immer älter, was in Summe ja erstmal positiv zu werten ist. Aber auch hier gilt „age ist just a number“. Wir haben superfitte über 60-Jährige und wir haben eben auch sehr junge Menschen mit großen gesundheitlichen Herausforderungen. Damit wird die Betrachtung von Lebensphasen für die Prävention immer wichtiger. Früher haben Frauen z. B. eher in den 20-ern ihres Lebens Kinder bekommen, heute gibt es viele Familien, die sich erst ab den 40-ern für Nachwuchs entscheiden. Für uns als Akteure im Betrieblichen Gesundheitsmanagement heißt das, in welcher Lebensphase befindet sich der Mensch vor uns, hat er oder sie vielleicht auch geschlechterspezifische Anforderungen, bei denen wir helfen können.

All diesen Herausforderungen stehe ich aber ja nicht allein gegenüber: Die Health Management Organisation hat derzeit rund 200 Beschäftigte, darunter 45 Betriebsärzte, 30 Sozialberater und 17 Sport- und Gesundheitswissenschaftler. Diese Vielfalt ermöglicht es uns, interdisziplinär zu arbeiten und die vielfältigen Herausforderungen unserer Zeit ganzheitlich zu betrachten. Es geht immer darum, die bestmöglichen individuellen Lösungen für jeden Mitarbeitenden finden.

 

Hat denn die Transformation der Arbeitswelt auch Einfluss auf die Themen des Gesundheitsmanagements?

Auf jeden Fall. Siemens hat 2020 zwei bis drei Tage pro Woche mobiles Arbeiten als weltweiten Standard eingeführt. Das hatte zur Folge, dass wir unser BGM-Angebot noch weiter digitalisieren mussten, um diese Mitarbeitenden genauso gut versorgen zu können. Zur gleichen Zeit haben wir aber auch die so genannten Blue Collar, also die Mitarbeitenden in der Produktion, die bei uns rund 50% der Belegschaft in Deutschland ausmachen und seit jeher das starke Rückgrat von Siemens sind. Unser Angebot im Health Management ist genauso vielfältig, wie die Menschen, die bei uns arbeiten und das ist ganz nebenbei gesagt, auch einer der größten Motivationen in meiner täglichen Arbeit. Wir sind nah am Puls der Zeit und müssen immer schnell und flexibel sein. Das ist eine spannende und vor allem sinnstiftende Aufgabe.

 

Was hat Betriebliches Gesundheitsmanagement mit Unternehmenskultur zu tun?

Das ist ganz entscheidend und zum Glück hat Siemens das rechtzeitig erkannt. Wenn wir mal das Thema Employer Branding betrachten. Was suchen denn die Bewerber von heute? Die wollen nicht nur einen finanziell attraktiven Arbeitsplatz, sondern eben auch einen, der ihre Werte und Lebensziele unterstützt. Und da sind Themen wie Work-Life-Balance, Wellbeing, Leadership Culture, eine positive Unternehmenskultur und eben auch das Thema Psychische Gesundheit ganz vorne auf der Agenda. Das bekommen wir 1:1 aus Bewerbungsgesprächen gespiegelt und ich denke, dass unser Unternehmen hier wirklich punkten kann.

Unser Gesundheitsmanagement ist kein theoretisches Bekenntnis, sondern, gelebter Teil der Unternehmensstrategie und -philosophie. Um das nicht bei leeren Worten zu belassen, kann ich das mit Zahlen untermauern. Wir haben z. B. weniger AU-Tage durch psychische Erkrankungen als der Durchschnitt der Firmen in Deutschland. Natürlich ist das noch nicht gut genug, aber es zeigt auch anhand von KPIs, dass wir mit unser Health Management Strategie auf dem richtigen Weg sind.

Siemens hat in punkto BGM definitiv mehr zu bieten, als manche Menschen, die uns von außen betrachten, glauben. Wir befinden uns in einem der größten Transformationsprozesse unserer über 175-jährigen Geschichte und es macht mich wirklich stolz, mit meiner und der Arbeit meiner Organisation, hier aktiv mitgestalten zu können.


Wie sehen Sie das Thema Digitalisierung im Betrieblichen Gesundheitsmanagement?

Die Digitalisierung bietet enorme Chancen für das Gesundheitsmanagement, hat aber natürlich auch wie alles im Leben zwei Seiten.

Unsere Health Management Organisation ist dabei, immer mehr eigene Prozesse zu digitalisieren. Durch digitale Tools und Plattformen können wir Gesundheitsdaten noch effizienter als vorher erfassen und analysieren. Dies ermöglicht es, Gesundheitsprogramme zu entwickeln, die noch individueller auf die Bedürfnisse unserer Mitarbeitenden zugeschnitten sind. Außerdem kann die Digitalisierung den Zugang zu Gesundheitsressourcen, und -dienstleistungen für unsere Mitarbeitenden erhöhen.

Aber natürlich verändert sich auch die Arbeitsbelastung der Menschen. Wir haben schlechtere Augen durch die Computerarbeit. Wir sehen, dass unsere Mitarbeitenden erst Kompetenzen entwickeln müssen, um mit der ständigen Erreichbarkeit und vor allem aber auch der extremen Informationsflut umgehen zu können. Wir haben ergonomische Belastungen durch unzureichend eingerichtete Arbeitsplätze und nehmen uns selbst oft zu wenig Pausen. Was wieder einen Handynacken, Rückenschmerzen und Muskelverspannungen mit sich bringen kann und so weiter.

Was wir daher brauchen, ist der Aufbau von Gesundheitskompetenz bei unseren Mitarbeitenden. Was verstehen wir unter Gesundheitskompetenz? Wir müssen den Menschen helfen, die für sie relevanten Gesundheitsinformationen zu finden, diese zu verstehen, sie zu bewerten und letztendlich anzuwenden. Gesundheitskompetenz ist ohne Frage der Schlüssel für den Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit und für ein langes Leben.

 

Können Sie ein konkretes Beispiel für den Einsatz digitaler Technologien bei Siemens nennen?

Ich würde mich gerne auf zwei Beispiele konzentrieren. Im gewerblichen Bereich der Fertigung und Produktion nutzen wir die sogenannte TuMeke App. Der Begriff TuMeke findet seinen Ursprung im Polynesischen und bedeutet übersetzt to improve, also verbessern.

Die App wird bei Siemens von den Ergonomie-Experten (z. B. Fertigungsplanern, Gesundheitsförderungsexperten, Betriebsärzten, Fachkräfte für Arbeitssicherheit) eingesetzt, um Arbeitsplätze mittels Bildverarbeitung zu bewerten und aufgrund der Ergebnisse Verbesserungen der Arbeitssituation herbeizuführen.

Es genügt ein Smartphone oder Tablet, um Arbeitsvorgänge zu filmen und mit Hilfe standardisierter Bewertungsverfahren einen Risiko-Score für die jeweilige Tätigkeit zu ermitteln.

Ein weiteres gutes Beispiel ist die Einführung des Health Navigators, einer Gesundheits-App, die wir kürzlich implementiert haben. Hier können unsere Mitarbeitenden niedrigschwellig einzelne Handlungsfelder rund um ihre Gesundheit bewerten.  Alles startet mit der Frage, wie gesund fühlst Du Dich? Nach einem Multiple Choice Test erhält man eine Auswertung und erste konkrete Handlungsempfehlungen. Bei der Umsetzung der identifizierten Maßnahmen unterstützen dann wiederum die Fachexperten unserer Health Management Organisation.

 

Welche Herausforderungen sehen Sie bei der Implementierung digitaler Lösungen im Gesundheitsmanagement?

Eine der größten Herausforderungen ist die Sicherstellung des Datenschutzes und der Datensicherheit. Gesundheitsdaten sind sehr sensibel, und es ist entscheidend, dass sie geschützt werden. Außerdem müssen wir sicherstellen, dass alle Mitarbeitenden Zugang zu den digitalen Tools haben und diese auch nutzen können. Klassischerweise können die so genannten White Collar Worker, also die Arbeitnehmenden, die im Büro arbeiten, eher auf digitale Anwendungen zugreifen und vor allem können sie eher flexibel über ihre Zeit verfügen. Ein Blue Collar Worker, also Arbeitnehmende, die überwiegend körperliche Arbeit abseits des Schreibtisches verrichten, können das nicht. Hier hatten wir bei Siemens auch viele Hausaufgaben zu machen. Inzwischen hat jeder in der Fertigung einen Zugriff auf unsere digitalen Lernangebote und natürlich hat das unbedingt ein Umdenken bei den Führungskräften erfordert, die in einem meist in Schichten organisierten Arbeitsalltag ihren Teams auch die nötige Zeit zum Lernen ermöglichen müssen.

Was mir auch noch wichtig ist, zu sagen: Die Digitalisierung von BGM-Maßnahmen ist die Zukunft und bietet meiner Meinung nach, mehr Vor- als Nachteile. Aber man muss eben auch sehen, dass sie den Menschen nicht ersetzt. Keine Suchmaschine, keine noch so großartige App auf dieser Welt, kann z. B. eine eingehende Untersuchung und Diagnose durch einen Arzt oder ein vertrauliches Gespräch mit der Sozialberatung ersetzen. All die Daten und KPIs, die wir durch Digitalisierung erhalten, müssen ausgewertet und vor allem in Relation gesetzt werden. Gesundheit sollte immer individuell betrachtet werden, weil jeder Mensch einzigartige Bedürfnisse, Erfahrungen und Lebensumstände hat. Eine KI oder App ist nach heutigem Stand dazu (noch) nicht in der Lage.

 

Abschließend, wie sehen Sie die Zukunft des Gesundheitsmanagements in Bezug auf die Digitalisierung?

Ich bin sehr optimistisch, was die Zukunft betrifft. Die Themen Gesundheit und Wohlbefinden am Arbeitsplatz werden eine immer größere Rolle spielen, und damit meine ich eben nicht den viel besprochenen Obstkorb, sondern systematisches und nachhaltiges Gesundheitsmanagement, bei dem der Mensch im Mittelpunkt steht. Der Fachkräftemangel wird sich aufgrund des demografischen Wandels weiter verschärfen, was für die Unternehmen bedeutet, dass wir noch mehr in die Beschäftigungsfähigkeit unserer Mitarbeitenden investieren müssen.

Die Digitalisierung des Gesundheitsmanagements bietet viele Chancen für eine verbesserte, individuellere und effizientere Versorgung. Sie könnte nicht nur den Zugang zur Gesundheitsversorgung weltweit verbessern, sondern auch die Qualität der Behandlung steigern und präventive Maßnahmen verstärken. Allein das Thema genomische Daten, also die Analyse von DNA und genetischen Informationen, die es ermöglichen könnte, Krankheitsrisiken frühzeitig zu erkennen und individuell zugeschnittene Therapien anzubieten, ist so interessant, dass es eigentlich ein eigenes Interview dafür braucht…

Gleichzeitig müssen wir, die Herausforderungen im Bereich Datenschutz, Ethik und Inklusion meistern. Langfristig könnte die Digitalisierung die Art und Weise, wie wir Gesundheit verstehen und leben, wirklich revolutionieren. Das ist doch wirklich ein spannender Ausblick.

 

Wir bedanken uns für das Interview mit Klaus Pelster.

 

Quellen und weiterführende Literatur:

Siemens AG (2025): EHS. Gemeinsam für eine sichere und nachhaltige Zukunft. Verfügbar unter: https://www.siemens.com/de/de/unternehmen/nachhaltigkeit/social-commitments/ehs.html

Deutsche Rentenversicherung (2023): Erwerbsminderungsrenten im Zeitablauf 2024. Verfügbar unter: https://www.deutsche-rentenversicherung.de/SharedDocs/Downloads/DE/Statistiken-und-Berichte/statistikpublikationen/erwerbsminderungsrenten_zeitablauf.html

Wissenschaftliches Institut der AOK (WIdO) (2020): Fehlzeiten in der Pandemie: Weniger Krankmeldungen, aber längere Krankheitsdauer wegen psychischer Erkrankungen. Verfügbar unter: wido_pra_pm_fehlzeiten_im_pandemiejahr_1020.pdf

Im Partner:innenkreis

Klaus Pelster vertritt die Siemens AG im Partner:innenkreis des DNBGF und ist schon seit vielen Jahren im BGM tätig: Vor seiner Zeit bei Siemens lernte er das Thema Betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM) aus verschiedenen Perspektiven kennenlernen – aus Sicht einer Krankenkasse, eines Beratungsunternehmens für KMU’s und eines globalen Beratungsunternehmens.

 

 

Klaus Pelster

Es ist immer wertvoll Menschen zu treffen, die dasselbe wollen, nämlich mit Herzblut eine gesunde Arbeits- und Lebenswelt zu schaffen. Das Besondere beim DNBGF ist, dass es nicht nur ein Netzwerk auf dem Papier ist, sondern, dass man hier schnell und konkret in die Umsetzung geht. Wir als Siemens haben viel zu zeigen, aber eben auch viel zu lernen und da tut der Austausch mit all den Kolleg:innen einfach gut.